Strategiepapier

Warum wir die Welt nur retten, wenn wir das Patriarchat abschaffen

Ungeachtet aller Erkenntnisse und Appelle steuert sich die Menschheit mit unglaublicher Unbeirrbarkeit in den sozialökologischen Kollaps. Wir haben die Hölle auf Erden errichtet und heizen sie weiter an, obgleich alle Argumente für eine radikale Veränderung sprechen.

Warum der globale Norden das alte Spiel der Ausbeutung weiterspielt und die Vernichtung des Planeten in Kauf nimmt, ist nicht zu verstehen, ohne die patriarchale Wertsetzung aufzudecken, die unserem Wirtschaften und gesellschaftlichen Handeln zugrunde liegt. Der Wandel, den wir brauchen, muss tiefgreifender sein, als den meisten bewusst ist. Ohne eine Abschaffung des Patriarchats wird es keine Veränderung zu einem nachhaltigen Wirtschaften, zu einem fürsorglichen Umgang mit der Welt und zu einem global fairen Miteinander geben. Ohne eine Um-Wertung der Werte, ohne ein angemesseneres Gewichten von Konkurrenz und Kooperation, von Ego und Eco, von Gewalt und Fürsorge werden die westlichen Gesellschaften weiterhin nicht davon ablassen, alles auszubeuten, wozu sie in der Lage sind: Bodenschätze, Meere, Luft, Pflanzen, Tiere, Menschen des globalen Südens, Frauen*.

Leider sind wir uns der Werte, die unserem Handeln zugrunde liegen, allzu oft gar nicht bewusst. Und auf welche Weise das Patriarchat seine Wertsetzungen sichert, mit welchen Mitteln es einen tiefgründigen Wandel verhindert, durch welche tief eingesickerten Denkmuster es jedes Entstehen von konstruktiven Alternativen zu hemmen weiß, ist noch viel weniger bewusst.

Feminismus und Umweltbewegung müssen für die Analyse der Lage, für das Bekämpfen der Katastrophen und für das Handhaben des Kollapses zusammenarbeiten. Also folgt uns auf einem kleinen Rundgang durch die Spielregeln des Patriarchats!

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Lage
  2. Werte: Was im Patriarchat zählt
  3. Werte machen Wirtschaft
  4. Die Naturalisierung des Bösen
  5. Klimarassismus und Klimasexismus
  6. Patriarchat in den Köpfen und Körpern
  7. Culture of Care
  8. Spielverderber*innen sein: Gewaltstrukturen offenlegen, Wertewandel anstoßen!
  9. Eine feministische Rebellion

Die Lage

Heute ist der 12. Juli 2024.

Die Nachrichten: Überflutungen (Grenada, El Salvador, Venezuela, Türkei, Indien, Texas, Mexiko; Russland, Iran), Waldbrände (Sibirien, Pantanal, Griechenland, Kalifornien), extreme Hitze (USA, Pakistan, Mexiko) und Stürme/Tornado (China, USA). 6 der 9 planetaren Grenzen, welche einen sicheren Handlungsspielraum für die Menschheit definieren, sind bereits überschritten. Das 6. Massenaussterben, vom dem 1 Million Arten betroffen werden, hat längst begonnen. 2021 sind 1 Millionen Kinder an Hunger gestorben. Weltweit leiden 275 Millionen Menschen akut an Hunger. Nach Schätzungen der WHO sind bisher 20 Millionen Menschen an einer Zoonose, an Corona, gestorben. Die psychosoziale Versorgung in Deutschland ist nicht mehr angemessen arbeitsfähig, Jugendhilfeeinrichtungen sind überlastet, psychologische Versorgung mit horrenden Wartezeiten belegt. Es gibt einen rasant wachsenden Pflegekräftemangel. Weltweit haben über eine Milliarde Menschen überhaupt keinen Zugang zu bezahlbarer medizinischer Versorgung. Der Klimawandel bedroht die Existenz von zwei Milliarden Menschen im globalen Süden, mindestens 20 Millionen Menschen fliehen jedes Jahr vor der Klimakrise. Ca. 28.900 frühzeitige Tode werden auf die Belastung der Umgebungsluft mit Feinstaub zurückgeführt; auf deutschen Landstraßen sterben pro Woche 4 Radfahrer*innen. Jeden Tag versucht ein Mann eine Frau zu töten, jeden dritten Tag gelingt dies.

Nachrichten EINES Tages. Und dabei bleibt es dann auch. Krisen in Zahlen – die wir vorbeirauschen lassen. Habt auch Ihr die Nachrichten ab Zeile 3 nur noch überflogen? Jede einzelne dieser Nachrichten könnte genügen, um uns in Wut, Verzweiflung oder Handlung zu bringen. Nähmen wir irgendeine dieser Nachrichten emotional wirklich wahr, müsste in uns der Impuls entstehen, die Welt ändern zu wollen. Was betäubt uns so? Warum erreicht uns die Erkenntnis nicht – weder als Täter*innen noch als Betroffene?

Und ist es nicht tatsächlich im wahrsten Sinn des Wortes ver-rückt, dass wir so lange blind dafür waren und noch sind, welche toxische Welt wir geschaffen haben? „Und plötzlich stellen wir fest: Wir leben nicht nur in einem Zustand zunehmender psychisch-sozialer Verelendung, sondern auch in einem Zustand des akuten Mangels. Wir haben buchstäblich Mangel am Lebensnotwendigen: an guter Luft, sauberem Wasser, unverdorbener Nahrung, Ruhe, an Raum für Kinder und für uns selbst. Damit ist aber auch die Lebenslüge, dass stets steigender Wohlstand „gutes Leben“ bedeutet, entlarvt. Wer dauerndes Wachstum und stets steigenden Lebensstandard will, bezahlt dafür buchstäblich mit seinem eigenen Leben.“ (Mies & Shiva S. 79).

Wir Menschen haben eine Welt der Angst und Zerstörung errichtet. Im Großen wie im Kleinen: Der Zustand ist unerträglich, in ökologischer, sozialer und moralischer Hinsicht. „We are on the way to (climate) hell with our foot on the accelerator.“ (António Guterres).

Werte: Was im Patriarchat zählt

Die Ursache für diese Fahrt in die Hölle also, das wird auch im Jahr 2024 in seiner Radikalität viel zu wenig deutlich, ist der Mensch: „Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen ist […] ein Thanatozän, ein Zeitalter des Todes und des Tötens, nicht nur der Menschen untereinander, sondern insbesondere auch der Tiere durch den Menschen.“ (Soentgen, S. 73) Die verursachende und deshalb verantwortliche Spezies ist der Mensch, der sich seit Jahrtausenden bis auf wenige Ausnahmen dafür entschieden hat und entscheidet, seine Art des Zusammenlebens nach patriarchalen Werten zu gestalten.

Werte bewerten, was als moralisch gut und richtig gilt. Sprachlich und gedanklich leiten wir unsere Vorstellungen vom gesellschaftlichen Miteinander aus familiären Konstellationen ab (vgl. Lakoff). Es gilt also wörtlich und wechselseitig: „Das Private ist politisch“. Die Ideale, die aus einer patriarchalen Familienkonstellation auf die gesellschaftliche Ebene übertragen werden, führen zu Patriarchaten, zu Gesellschaftsformen, die von einer gefährlichen Welt ausgehen, in denen eine (männliche*) Autorität eine Gruppe nach außen verteidigt und ihre Mitglieder beherrscht. Autoritarismus als Grundprinzip zieht sich so durch alle Ebenen. „Die Herrschaft über die eigene innere Natur ist der Spiegel der Herrschaft über die äußere Natur und über andere Menschen. Dieser Dreitakt von Herrschaft ist verkörpert im männlichen Charakter, der gegen andere noch härter und kälter ist als gegen sich selbst. Für ihn ist jede Vorstellung von Abhängigkeit bereits die Quelle der Angst, das mühsam zusammengehaltene Selbst könne sich an die Natur verlieren. Das zeigt sich im Rückgriff auf die blanke Gewalt, die dem Autoritären viel näher liegt als die fürsorgliche und kommunikative Vernunft.“ (Stögner)

Diesem Patriarchat, mehr noch dem kapitalistischen, neoliberal entfesselten Patriarchat, inhärente Prinzipien sind u. a. Überlegenheit und Wert-Hierarchie, Konkurrenz und Kampf, Unabhängigkeit und Eigeninteresse, Beherrschung und Kontrolle sowie damit verbundene Gewalt. Das Recht des vermeintlich Stärkeren, nämlich der Krone der Schöpfung, legitimiert dazu, all jenes Leben, was in der Hierarchie untergeordnet wird, gnadenlos auszubeuten. „Indem man dem Menschen eine stabile Vormachtstellung gegenüber dem Tier einräumte, sorgte man automatisch auch für eine große ontologische Distanz zu allem anderen (wie beispielsweise Pflanzen, Pilzen oder Flüssen); indem man festlegte, dass das Tier dem Menschen unterlegen ist, konnte alles andere als noch niederer oder reine Materie angesehen werden; und indem man Tieren den Anspruch auf einen moralischen Umgang verweigerte, machte man auch eine moralische Betrachtung der gesamten Natur überflüssig.“ (Christ, S. 83). Und weiter: „Die wichtigste Leistung der großen Kette der Wesen war, dass sie die Überzeugung von der Überlegenheit des Menschen und seinem Recht zu herrschen zu einem handlichen, alles umfassenden Paket schnürte.“ (Christ, S. 84). An der Spitze dieser Kette aber steht nicht der Mensch, sondern der Mann – ausgestattet mit einer alles und alle umfassenden Deutungs- und Gestaltungshoheit.

Werte machen Wirtschaft

Sind die oben beschriebenen Werte auch eure? Konkurrenz, Hierarchie, Kontrolle, Unabhängigkeit, Eigeninteresse…? Ob ihr wollt oder nicht: Ihr tragt sie mit. Denn im Patriarchat zu leben bedeutet, das Zusammenleben so zu organisieren, dass es den patriarchalen Werten entspricht – und sich dieser Wert-Setzungen und Entscheidungen wenig bewusst zu sein.

Akzeptieren wir die patriarchale Grundannahme, dass Menschen sich vor allem in Konkurrenzkämpfen entfalten, dann scheint uns ein Wirtschaftssystem naheliegend, welches vom Wettbewerb lebt, in dem dann jede*r die eigenen Fähigkeiten, dem Eigeninteresse dienend, am besten zur Geltung bringt. Konkurrenzbeziehungen sind Kampfbeziehungen. Diese Kampfsituation, in die wir uns so auch in Friedenszeiten versetzen, verlangt ein beständiges Übertreffen des Bisherigen und der Anderen aus Angst übertroffen zu werden. Dies erzeugt Ausbeutungssysteme: Selbstausbeutung, Ausbeutung der Arbeitenden, Ausbeutung von Sklaven, Ausbeutung von Tieren und Ressourcen.

Solche Ausbeutungsketten werden moralisch durch ein Wertesystem gerechtfertigt, welches Hierarchien vorsieht und nicht von einer Gleichwertigkeit der Lebewesen ausgeht – auch nicht innerhalb der Spezies Mensch. Gerechtigkeit entsteht im patriarchalen Denken nicht durch Gleichwertigkeit und unbedingte Würde, sondern durch „Leistung“. Das neoliberale Leitbild, dass sich Leistung lohnen wird, schlägt sich wirtschaftlich und auch gesellschaftspolitisch nieder. Denn Leistung lohnt sich nicht nur finanziell, sondern auch in Hinsicht auf Partizipation und Freiheit, die wir uns erst „verdienen“ müssen. Wer Macht hat, der hat sie sich natürlich ebenfalls „verdient“ und „erarbeitet“. Der Bereich, den ein Mensch zu unterwerfen und zu kontrollieren in der Lage ist, gilt als Ausdruck seiner Stärke. Gewalt ist somit ein legitimes Mittel: „Natur, Frauen und fremde Länder und Völker sind die Kolonien des Weißen Mannes. Ohne ihre gewaltsame Unterwerfung, ohne ihre Kolonisierung zum Zwecke der räuberischen Aneignung von Territorien, Bodenschätzen und Menschen gäbe es die berühmte westliche Zivilisation nicht. Es gäbe nicht ihr Fortschrittsmodell, es gäbe auch nicht ihre Naturwissenschaft und Technik. Es gäbe auch nicht ihr kapitalistisches Wirtschaftssystem und den Reichtum an Geld und Gütern. Die westliche Welt wäre nicht zum Vorbild für Entwicklung für alle Länder der Welt geworden. Das Geheimnis dieses Aufstiegs des Westens ist die GEWALT.“ (Mies & Shiva, S. 57)

Natürlich produziert dieser Kampf auch Opfer. Laut patriarchaler Logik haben die Gewinner ihren Erfolg aber ebenso verdient, wie die Verlierer ihre prekäre Situation. Jedes Beschränken der Ausbeutung, jedes Genug im Konsum gilt auf der patriarchal-kapitalistischen Werteskala als ein Rückschritt und eine ungerechte Beschränkung der Freiheit der Starken. Der Mensch, allen voran der weiße Mann, ist in diesem System der alleinige Schmied seines Glückes, welches auf dem fortgesetzten und stets auszuweitenden Konsum und Besitz von Waren basiert. „Der Westen, Herr aller Dinge, hat in der ganzen Welt die Vorherrschaft des Habens über das Sein verbreitet.“ (Miano, S. 22). Gier ist eine Tugend. Ohne Dinge sind wir nichts – so fühlt es sich an, so wird es suggeriert. Wir wollen es nicht lassen, weil wir dann das Gefühl haben, uns selbst, unseren Selbst-Wert zu verlieren. „Das von Wissenschaftlern so genannte Anthropozän ist [mithin] in Wahrheit ein Kapitalozän, aus Bürgern sind von Werbeagenten manipulierte Konsumenten geworden.“ (Alt S. 103).

An die Stelle des Bedürfnisses nach kooperativen Beziehungen werden im Patriarchat Dinge und Konkurrenzkämpfe gesetzt. Sicherheit soll durch den Besitz von Objekten und durch das Beherrschen von Unterlegenen hergestellt werden. Auch das Verhältnis zur Natur ist davon geprägt: Sie wird überwunden, sie wird kontrolliert, sie wird bekämpft – auch aus Angst. Die Beziehungen zu ihr werden aufgelöst. Letztlich kann schon das Konzept „Mensch vs. Natur“ als ein Versuch zur Auflösung der Interdependenz betrachtet werden: so, wie in der Menschheitsgeschichte auch die Konzepte „Mensch vs. Wilde“, „Mensch vs. Frau*“. Diese Distanzierungen rechtfertigen Kontrolle und Ausbeutungsbeziehungen, in denen ein Aneignen und Missbrauchen stattfindet, kein Kooperieren. Deshalb funktionieren auch Care-Systeme im Kapitalismus nur, solange es Personen auf je untergeordneten Hierarchieebenen gibt, die ausgebeutet werden können. Care wird von oben herab „in Anspruch genommen“ anstatt wechselseitig und kooperativ zu erfolgen.

Ein Ideal des Patriarchats ist Unabhängigkeit. Es folgt dem Bild des souveränen, autarken Kämpfers, der für sich auf seinem Territorium gegen alle Widrigkeiten kämpft – auf niemanden angewiesen und sich selbst der Nächste. Dies ist nun ausgesprochen weltfremd und übersteht keine Realitätsprüfung: weder biologisch noch physikalisch noch sozial noch psychologisch sind wir unabhängig – stets sind wir Teil von größeren Systemen. Und so wie das Baby ohne die Zuwendung und Liebe einer Bezugsperson nicht überlebt, überlebt eine Firma nicht ohne den basale Infrastrukturen zur Verfügung stellenden, Geld investierenden, die Angestellten versorgenden Staat. Care ist mithin allpräsent – gleichzeitig unsichtbar und durchgehend abgewertet. Care muss unentgeltlich (oder schlecht bezahlt) von unten nach oben erbracht werden, die Erfolgreichen machen einen Anspruch darauf geltend.

Das Unabhängigkeitsideal wird so zum Egoismus, da abgewertet wird, was in Anspruch genommen wird. Das Wirtschaften des Einzelnen wird über das Zusammenleben der Gemeinschaft gestellt. Dieser Fokus auf das persönliche Konkurrenzkampffeld bedeutet eine eingeschränkte Sicht auf das Ganze. Kapitalismus und Neoliberalismus übernehmen weder für die Voraussetzungen noch für die Folgen ihres Wirtschaftens Verantwortung. Und sie basieren letztlich auf der omnipotenten, narzisstischen Annahme, unabhängig (was häufig fälschlich mit „frei“ gleichgesetzt wird) von allem existieren zu können. Spätestens seit den 80er Jahren, als bekannt wurde, was wir anrichten, hätte die Menschheit beginnen müssen, psychologisch erwachsen zu werden. Und das bedeutet, neben dem eigenen systemischen Eingebundensein „klar zu sehen – und nicht zu verleugnen -, dass die Erde Grenzen hat und dass wir sie nicht besitzen und kontrollieren“ (Weintrobe, S. 73). „Die Erde ist endlich… Was die modernen Maschinen-Menschen ihr irgendwo antun, wird irgendwann und irgendwo auf uns alle zurückschlagen. Auch das Entfernteste kann plötzlich das Nächste sein, denn alles hängt mit allem zusammen. ‚Unendlicher Fortschritt‘ ist daher ein lebensbedrohlicher Mythos, weil er uns weismacht, wir könnten die lebendige Natur, zu der wir selbst gehören, ungestraft unterwerfen und rücksichtslos ausbeuten. Weil die Natur seit Jahrhunderten wie eine Feindin behandelt wurde, tritt sie uns nun feindlich entgegen.“ (Mies & Shiva, S. 105). Wachstum als DIE Grundlage des Kapitalismus aber ist damit per sé obsolet.

Diese Folge (und gleichzeitig Voraussetzung) des patriarchal-kapitalistischen Systems wird einfach ausgeblendet. Dies gilt ebenso für den unabdingbaren Bereich von Care-Arbeit, welchen der Kapitalismus in Anspruch nimmt und zwingend benötigt – dessen Kosten aber ausgeblendet werden. Ein riesiger Anteil der Arbeit in einer Gesellschaft, nämlich Care- und Reproduktionsarbeit wird unentgeltlich abgeleistet – sprich: durch Ausbeutung von Frauen*.  Dies bleibt völlig außen vor bei der Bemessung von Wirtschaftsleistung. „Die fehlende Berücksichtigung unbezahlter Hausarbeit bei der Berechnung des BIP ist vielleicht die größte geschlechterbezogene Datenlücke von allen, Schätzungen zufolge könnte unbezahlte Care-Arbeit in Ländern mit hohen Einkommen bis zu 50 Prozent des BIP ausmachen; in Ländern mit niedrigen Einkommen sogar bis zu 80 Prozent“ (Criado-Perez S.322). Das Unsichtbarmachen dieses riesigen Bereichs des Zusammenlebens führt zu eklatanten Fehleinschätzungen und Verzerrungen. So geht die Produktion von Dosensuppe in die Wirtschaftsleistung ein, ebenso eine zu Hause programmierte Software – nicht aber eine zu Hause gekochte Mahlzeit (vgl Criado-Perez S. 322 ff). Werden Steuern gesenkt und öffentliche Ausgaben gekürzt, so führt das zu einer Verlagerung von Arbeit aus dem männer*dominierten Lichtfeld des Marktes in das Dunkelfeld von Arbeit durch Frauen*. Im Bereich der Pflege sind solche Experimente regelmäßig zu beobachten und auch die Corona-Krise hat solche Effekte gezeigt: wird öffentliche Versorgung heruntergefahren, um Ausgaben des Staates zu sparen, so übernehmen in der Regel Frauen* die Arbeit (die ja weiterhin gemacht werden muss) unentgeltlich und stehen unter Umständen dadurch dem „offiziellen“ Arbeitsmarkt sogar weniger zu Verfügung. Die so „gesparten“ Ausgaben kommen aber vornehmlich Männern* durch Steuerentlastung zugute. Die hier angedeutete Ausbeutungskette setzt sich nur auf andere Weise fort, wenn schlechtbezahlte Menschen aus ärmeren Ländern die Arbeiten übernehmen. Die Wert-Setzung des kapitalistischen Patriarchats blendet Care- und Reproduktionsarbeit aus, indem sie diese im eigenen Bewertungssystem nicht misst. Ebenso werden ja alle Ausbeutungs- und Verschmutzungseffekte, die Mitwelt betreffend, nicht einbezogen: das Aneignen von Bodenschätzen, die Vernichtung von Lebensräumen, die Veränderung aller globalen Lebensbedingungen für Pflanzen und Tiere.  Letztlich ist das, was der patriarchale Kapitalismus als „relevant“ einstuft, ein nur sehr kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. Die Kosten, die dieses kleine patriarchale Spielfeld mit seinen unfairen Spielprinzipien und fragwürdigen Gewinnpunkten erzeugt, sind enorm – und tödlich.

Unbeachtet bleiben ja auch alle Schäden, die kapitalistisches Wirtschaften erzeugt. Damit gehen eine Normalisierung des Unnormalen und eine Gewöhnung an Gewalt einher. Es ist gelungen, die Menschen glauben zu machen, Kapitalismus sei das System, was realistischer Weise angesichts der Natur des Menschen am Besten funktioniere. Dabei wird uns „ein brutaler Stand der Dinge, im höchsten Maße ungleich – in dem jegliche Form von Existenz nur auf der Basis von Geld bewertet wird – […] als ein Ideal präsentiert“ (Fisher S. 11). Die Fakten werden keinesfalls als ideal und gut beschrieben. „Stattdessen haben sie beschlossen, einfach alle anderen Zustände ‚schrecklich‘ zu nennen. Sicherlich leben wir nicht unter den Bedingungen des vollkommenen Guten, so sagen sie. Aber wir müssen glücklich sein, dass wir nicht unter den Bedingungen des Bösen leben. Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Aber sie ist besser als die der blutigen Diktaturen. Der Kapitalismus mag ungerecht sein. Aber er ist nicht kriminell wie der Stalinismus. Wir lassen Millionen Afrikaner an AIDS sterben, aber wir geben wenigstens keine nationalistischen Deklarationen von uns, wie es Milošević tut. Wir töten Irakis per Flugzeug, aber wir schlitzen niemanden mit einer Machete die Kehle auf, wie es in Ruanda der Fall war.“ (Fisher S. 12 – er zitiert hier Badiou). Der Realismus, der hier beschrieben wird, funktioniert analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind. Die Angst vor der ungewissen Veränderung und unsere privilegierte Stellung lassen uns festhalten am Glauben an die „Erfolgsgeschichte Kapitalismus“. Aber diese historische Perspektive ist „eine weiße, westliche, meist männliche und materiell wie kulturell privilegierte. Und sie dient, gewollt oder nicht, auch dazu, andere Perspektiven zu verschleiern. Wechseln wir die Perspektive […] ist es eine Geschichte von Ausbeutung, Unterdrückung, Zynismus und aggressiver Verantwortungsabwehr. Kapitalismus wird zu einer Geschichte gravierender Ungleichheiten. Die wesentlichen Dimensionen, über die sich die Ungleichheit mit Blick auf den Klimawandel und seine Folgen äußert, sind rassistische, klassistische und sexistische Ungleichheiten.“ (Quent S. 23)

„Der Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern eine Art und Weise, wie Beziehungen zwischen den Menschen und der Natur organisiert werden.“ (Hartmann S. 94). Es ist ein Beziehungs-System, welches eine immer weiter vorangetriebene Ausbeutung allen Lebens voraussetzt – auf der psychologischen Grundlage der oben genannten patriarchalen Werte. Die Menschen im Kapitalismus sind systemimmant gezwungen auszubeuten – sämtliche, tatsächlich existenzbedrohende Folgen müssen ausgeblendet werden. Der schier unglaubliche Schaden, den wir Menschen Nicht-Menschen und der Umwelt zufügen, wird aktiv unsichtbar gemacht, verharmlost und räumlich (z. B. tragen ihn die Länder des globalen Südens) sowie zeitlich (nachfolgende Generationen) ausgelagert. Weintrobe bezeichnet dieses Verhalten als „Das Verrückte“. Wir lassen zu, dass (maligne) Narzissten die Welt regieren. Weil sie an patriarchalen Werten gemessen erfolgreich sind, ermächtigen wir autoritäre und narzisstische „Väter“ Verantwortung zu tragen, ja wir bewundern diese für ihre Macht und ihren scheinbaren Erfolg. Diese gewählten Vorbilder aber „werden sich über alles hinwegsetzen wollen, was ihren Ausnahme-Anspruch beeinträchtigt oder seinen Verlust befürchten lässt. Das können Regierungsbeschlüsse sein, kulturelle oder elterliche Autorität, die Gesetze der Physik und der Logik, die Realität, Bedürfnisse und einen Körper zu haben, die Realität des Todes, grundlegende Abhängigkeiten, Bindungen und Liebe, die Realität dessen, was der Mensch ertragen kann und was nicht, ohne zusammenzubrechen oder zu explodieren.“ (Weintrobe S. 261).

Im Grunde genommen beruht der patriarchale Kapitalismus auf einer kolossalen Selbstüberschätzung – und es ist zu überlegen, ob dieses System nicht vornehmlich dafür existiert, diese Hybris aufrecht zu erhalten, um die kränkende und ängstigende Tatsache unserer Endlichkeit nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Möglicherweise kann das kapitalistische Patriarchat als ein großer Versuch verstanden werden, die eigene Verletzlichkeit und die Angst vor dem Tod zu verdrängen (vergl. Wirth). Denn mit ver-rückter Beharrlichkeit ist ein kapitalistisches System auf ständiges Wachstum angewiesen – auch wenn in unserer Umgebung dafür keinerlei Vorbild existiert, ganz im Gegenteil. Selbst, wenn wir das patriarchal als gut bewertete Machtstreben und den damit einhergehenden Ausweitungsimpuls unberücksichtigt lassen und einen rein wirtschaftlichen Blick darauf werfen: Wenn nicht-konkurrenzfähige Unternehmen in ihrer Existenz gefährdet sind, werden alle zu einer ständigen Ausweitung ihrer Produktion gezwungen. Investitionen (Grundlagen des Kapitalismus) müssen Gewinn abwerfen – solange es ein Zinssystem und einen Aktienmarkt gibt, muss ein kapitalistisches Wirtschaftssystem wachsen – jedes Unternehmen darin und nach Möglichkeit auch jede*r Mitarbeitende darin. Aber Fakt ist: „Die Welt, unsere Wirklichkeit ist begrenzt. Die Erde ist begrenzt, unser Körper ist begrenzt, unser Leben ist begrenzt. Innerhalb einer begrenzten Welt kann es keinen ‚unendlichen Fortschritt‘, kein unendliches Wachstum geben. Darum muss eine ökofeministische Gesellschaft nach Lösungen innerhalb einer durch Raum, Zeit und die Tatsache, dass wir geboren werden und sterben, begrenzten Wirklichkeit suchen.“ (Mies S.359) Unser Eingebundensein in Zyklen des Werdens und Vergehens zu respektieren, fordert einen annehmenden Umgang mit lebensinhärenter Verletzlichkeit und Tod. Das patriarchale Postulat einer unendlichen Überlegenheit ist letztlich der ver-rückte Versuch, die Realität unserer Sterblichkeit und damit zusammenhängende Gefühle zu vermeiden. Ersatzweise klammern wir uns nahezu süchtig an Konsum und Fortschrittswerte. Dieser äußerst anstrengende, neurotische Versuch der Problemlösung aber funktioniert nicht nur nicht, denn wir alle werden versehrt werden und sterben. Er hat unsere Welt an den Rand des Kollapses gebracht.

Die Naturalisierung des Bösen

Dem Patriarchat gelingt es, seine Werte zur Natur des Menschen zu erklären – ein gut funktionierendes Totschlagargument, was jeglichen Widerspruch an der scheinbaren Realität scheitern lässt. Ausbeutungssysteme jeder Art argumentieren gern damit, dass es in der Natur des Menschen läge, sich in Konkurrenzkämpfen um sein Dasein zu befinden: gegenüber Artgenossen und gegenüber anderen Spezies. Ein solch biologisch abgeleitetes Menschenbild möchte es als unausweichlich beschreiben, dass wir uns in Ausbeutungsverhältnissen bewegen.

Durch Philosophie und Religionsgeschichte zieht sich beständig die Frage nach dem Bösen im Menschen. Patriarchale Auslegungen des Christentums (und wir haben fast nur solche) stützen die Vorstellung vom naturhaft bösen Menschen: „Was soll man schon von einem Wesen erwarten, dessen Streben von Jugend auf böse ist […]. Gerade diese Vorstellung ist jedoch das Herzstück des Patriarchats und zieht sich durch die gesamte patriarchale Überlieferung…“ (French S.527). Wir kennen diese Argumentationsfigur allzu gut aus der Auseinandersetzung um die Klimakatastrophe: Der Mensch ist nun mal gierig, der Mensch ist nun mal auf Konkurrenz programmiert,… das ist seine Natur. Nicht zu ändern…

Damit aber bleiben die Verursachenden – jene, die die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen vorantreiben und entsprechende gesellschaftliche, wirtschaftliche Strukturen implementieren – unbenannt und werden entsprechend nicht zur Rechenschaft gezogen. Ferner ignorieren und negieren Vertreter*innen des negativen Menschenbildes wissenschaftlich wiederholt belegte Fakten: “…seit einigen Jahren kommen Wissenschaftler aus völlig unterschiedlichen Disziplinen zu dem Schluss, dass unser düsteres Menschenbild reif für eine vollständige Überarbeitung ist“ (Bregman S.36). Fakt ist, dass uns evolutionär nicht primär Konkurrenz- sondern Kooperationsverhalten weitergebracht hat (siehe auch Kropotkin). Auch die patriarchal abgewerteten Eigenschaften Fürsorge, Empathie, Verbundenheit sind menschliche Eigenschaften und menschliche Natur. Und sie sind prägend – auch wenn wir unser gesellschaftliches Zusammenleben bisher kaum daran orientieren. Der Mensch ist besser als sein Ruf. Oder: Er könnte besser sein – die Voraussetzungen haben wir. „Wer sich aber für den Menschen einsetzt, tritt auch gegen die Mächtigen der Erde an. Für sie ist ein hoffnungsvolles Menschenbild rundherum bedrohlich. Staatsgefährdend. Autoritätsuntergrabend.“ (Bregman S.37). Denn dann könnten wir Menschen uns dafür entscheiden, die gute, heißt soziale und fürsorgliche Seite in uns, als gegeben vorauszusetzen und genau diese über Bildung, Errichtung entsprechender gesellschaftlicher Strukturen usw. zu fordern.

Die Auseinandersetzung mit der Frage: „Bin ich gut oder schlecht?“, ist für uns Menschen sehr kennzeichnend, was prinzipiell positiv bewertet werden kann. Diese Auseinandersetzung kann nicht umgangen werden – weder in uns, noch in den Gesellschaften. Nehmen wir uns ernst darin, rational, mit Vorstellungskraft und konzeptionellem Denken, mit der Fähigkeit zu Reflexion ausgestattet zu sein – dann heißt das: Wir haben Einfluss auf uns. Selbst wenn wir auch „böse“ sind, haben wir die Wahl! Wir tragen Verantwortung – für uns, unser Handeln und dessen Folgen. Und wir spüren das sehr wohl: Die Logik im Neoliberalismus steht im Widerspruch zum grundlegenden moralischen Empfinden der Menschen. Menschen stört es, wenn sie gezwungen werden, auf eine Art und Weise zu leben, die Schaden verursacht. Es löst die als sehr aversiv wahrgenommenen Emotionen Schuld und Scham aus – die Hüterinnen von Moral und Würde. Weil Kapitalismus und Neoliberalismus uns aber als rücksichtslose, egoistische und gierige Geschöpfe inhärent brauchen (Wachstum! Ausbeutung!), sorgen sie mit viel Aufwand dafür, dass wir es nicht sehen müssen: „Ich glaube, der tödlichste und verführerischste Reiz dieser Kultur der Achtlosigkeit liegt in der impliziten Suggestion, dass die Menschen scheinbar auf den inneren Kampf verzichten können. Wer will schon den Schmerz, sich lebendig zu fühlen? Das ist so passé. Harold Searles (1972) hat in einem bahnbrechenden Aufsatz vorausgesagt, wohin dies letztlich führt: „Angezogen von der Vorstellung, allmächtig und frei von menschlichen Konflikten werden zu können, laufen wir Gefahr, unsere Auslöschung herbeizuführen.“ (Weintrobe S.288).

Deshalb wird das, was wir meinen, wenn wir im positiven Sinn von Menschlichkeit sprechen, strategisch abgewertet – unsere Moral. Sie wird zunehmend in der politischen Diskussion als unvernünftig und verweichlicht abgewertet oder als ZU übergriffiger Anspruch abgewehrt. Moral soll kein Faktor für politische Entscheidungen sein. Das ist eine Taktik, die weiterhin ausbeuterische patriarchale Entscheidungen sichert – und in den Faschismus führen kann: Man lese etwa Höckes Aussagen zur Notwendigkeit von „wohltemperierter Grausamkeit“ (Höcke S.254), die ihre unmittelbare Entsprechung im Nationalsozialismus haben, wenn „Herrenmenschen“ keinen Wert darauf legten, als Humanisten zu gelten und Pazifismus und christliche Nächstenliebe als Ausdruck von Humanitätsduselei verspotteten.

Klimarassismus und Klimasexismus

Gesellschaftliche Formen von Diskriminierung schlagen sich grundsätzlich auch in der Umwelt- und Klimafrage nieder. Es gibt hier rassistische, sexistische, ableistische, klassistische Effekte, welche sich gegenseitig bedingen und verstärken.

Dem System Patriarchat – welches den Mann* an die Spitze von allem setzt – inhärent ist, dass Frauen* Betroffene sind. Wichtig ist hier unsere eigene koloniale Geschichte im Auge zu behalten – denn weiße Frauen* in Europa profitieren dennoch mehr von diesem System als z. B. migrantische Frauen* oder Frauen* in materiell ärmeren Ländern. Frauen* sind in besonderem Maß Leidtragende der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen: „..Frauen [verrichten] vermehrt landgebundene und/oder Sorgearbeit, Folgen und Auswirkungen des Klimawandels (etwa durch Erosion oder Wassermangel bedingte kranke Kinder) [sind] für sie unmittelbarer zu spüren als für Männer. Diese erhöhte Betroffenheit von Umweltzerstörung und Bedrohung der Lebensgrundlagen hat nichts mit einer biologischen Disposition und Schwäche zu tun. Vielmehr werden die Ungleichheit und die Nähe zur Natur durch die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung bedingt.“ (Hansen S.136). Traditionelle und stabile Rollenmuster sowie kulturelle, soziale, ökonomische oder politische Normen (die oft Marginalisierung, Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung bedeuten) führen mithin zu einer besonderen Vulnerabiltität von Frauen*: Frauen* können häufig weder schwimmen noch Bäume erklettern. Sie dürfen häufig das Haus nicht verlassen, um sich zu retten oder sie können es nicht schnell genug, weil sie sich um Kinder, Alte und Kranke kümmern. Frauen* verfügen oft über weniger Einkommen und weniger finanzielle Rücklagen als Männer, bekommen weniger Zugang zu Bildung, zu Land und zu anderen Ressourcen und dürfen weniger bei politischen Entscheidungen mitreden, etwa was Maßnahmen zur Sicherung ihrer Lebensgrundlagen in der Klimakrise betrifft. Zudem arbeiten in vielen Ländern vor allem Frauen* in jenen Sektoren, die von Hitzewellen, Dürren, Stürmen oder Überschwemmungen besonders stark betroffen sind – etwa im Anbau von Nahrungsmitteln. Schlägt die Dürre zu und werden Wasser knapp und die Marktstände leer, verbringen die Frauen* mehr Zeit mit Wasserholen oder der Nahrungsmittelbeschaffung und müssen dafür immer weitere Strecken zurücklegen. Das bedeutet: weniger Zeit für das Erwirtschaften von Einkommen, mehr körperliche Belastung und zusätzliche Gefahren, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Ein ähnliches, versehrendes Bild findet sich bezüglich FLINTA auf der Flucht. Die Aufzählung ließe sich weiter ohne Anstrengung fortsetzen…Wenn in Krisen gilt: „Rette sich, wer kann“, dann beruht auch das auf einem Recht des Stärkeren und Reicheren. Und das sind nicht die Frauen*.

Die Wunde der (solidarischen) Betroffenheit aber kann wacher machen gegenüber Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Gewalt. Der Schmerz der wahrgenommenen Betroffenheit kann eine heilsame Distanz schaffen zum uns umgebenden und durchdringenden System. Weil Frauen* mit-fühlen nicht aberzogen bekommen haben, fühlen sie den Schmerz aller Betroffenen viel eher solidarisch mit. Diese menschliche Betroffenheit ist ein moralischer Wert, den es hochzuhalten und einzufordern gilt. Das ist keine patriarchal interpretierte Schwäche und Naivität – das ist das, was uns im besten Sinne zu starken, resilienten und genau deshalb mitfühlenden Menschen macht. Frauen* werden das Patriarchat in seinem vernichtenden Wirken besser beschreiben können.

Es ist unbedingt notwendig – und dieses Papier will ein Stück dazu beitragen – die folgenden Kämpfe intersektional zu betrachten:

„Demokratieförderung, Antifaschismus, Antirassismus, Feminismus, Kämpfe gegen Diskriminierung, gegen soziale Ungleichheit, gegen Antisemitismus, gegen Wissenschaftsfeindlichkeit müssen Hand in Hand mit dem Kampf gegen den Klimawandel gehen. Wir müssen den Klimarassismus und alle anderen Benachteiligungen, die mit den ungleichen Folgen des Klimawandels verbunden sind, als Angriffe auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde verstehen.“ (Quent S.245)

Ein letzter Punkt: scheinbar banal und doch selten klar benannt: Die „Herrschaft der Väter“ heißt ganz konkret: Die Hauptverantwortlichen für den drohenden Kollaps sind Männer*. Denn es sind fast ausschließlich Männer*, welche politische Entscheidungen getroffen habe und treffen. Auch die westlichen Gesellschaften sind weit davon entfernt „die Bedürfnisse und Ansichten von männlichen und nicht-männlichen Personen im gleichen Maße in der Politik abzubilden. Für einen Bundestag, in dem nicht mal ein Drittel der Abgeordneten weiblich ist. Für eine UN, die nie eine Generalsekretärin hatte. Für nur Prozent Frauen in Vorstandspositionen der 100 größten deutschen Unternehmen.“ (Gupta) Mirjam Gruber spricht deshalb in ihrer Dissertation konsequenterweise von „man made“ statt von human made. Das mag polemisch klingen. Aber es ist, um Chris Stöcker aus seinem Buch „Männer, die die Welt verbrennen“ zu zitieren: „eine nüchterne Tatsachenbeschreibung: Es gibt auf der Welt Männer, sogar ziemlich viele, die bereit sind, ihrem aktuellen Profit, ihrer persönlichen Macht die Zukunft der gesamten Menschheit unterzuordnen. Und sie sind bis heute sehr erfolgreich in ihrem fatalen Tun.“ Das gilt es zu benennen. Täter sind als solche zu markieren. Wir sollten ihnen nicht gestatten, sich hinter der Annahme eines naturalisierten Bösen oder eines angeblich alternativlosen Wirtschaftssystems zu verstecken. Die Täter, mit denen wir es hier zu tun haben, handeln in vollem Bewusstsein. Ihre Handlungen sind Gewalt. Die Resultate sind Zerstörung und Vernichtung.

Diese Unterscheidung gut im Auge zu behalten ist auch deshalb wichtig, weil die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr mit Vorsatz genutzt wird, um notwendige radikale Veränderungen zu verhindern. So wird von Ökodikatur, antidemokratischer Gewaltherrschaft, Klimahysterie – oder auch naivem Gutmenschenglauben, moralischem Zeigefinger usw. gesprochen. Klimaaktivismus wird kriminalisiert. Insbesondere Frauen* werden für ihre Forderungen nach einer gerechten Welt heftig angefeindet: „Misogynie, also Frauenfeindlichkeit und Antifeminismus, also die Bekämpfung weiblicher Emanzipation, dienen dazu, den Status quo männlicher Herrschaft zu verteidigen. Die Abwehr, weiße, reiche und männliche Privilegien zu hinterfragen, folgt ähnlichen Mustern wie die Leugnung des menschengemachten Klimawandels.“ (Quent S.83). Es geht um Macht und das Verteidigen von Macht.

Patriarchat in den Köpfen und Körpern

Im Patriarchat gelten Regeln, deren wir uns mehr oder wenig bewusst sind. Mittlerweile bewusster sind uns – dank harter Arbeit der Feminist*innen vor uns – z. B. explizite Gesetze, welche Männer* bevorzugen, oder implizite, strukturelle Regeln, welche männliche Macht erhalten (wie die Gläserne Decke). Mindestens genau so wirksam aber ist das, was als „internalisiertes Patriarchat“ bezeichnet werden könnte. Es sind Regeln des Patriarchats, die uns „in das Individuum als Selbstverständnis“ (Grubner S. 132) eingeschrieben sind. Wer wir sind, wer wir glauben, dass und wie wir sind, welche Wahrnehmungen uns bewusst werden und wie wir diese interpretieren, welche Handlungen uns stimmig erscheinen, konstruieren wir über den Austausch mit den Menschen (und Nicht-Menschen), die uns umgeben. Michale Cole, ein Kulturpsychologe, beschrieb das als „Aufwachsen in den Skripten anderer Leute“. Wir können dem nicht entkommen, wir übernehmen das Patriarchat in unsere Köpfe und Körper, ob wir wollen oder nicht. Auch diesbezüglich sind wir von Anfang an bis an unser Lebensende interdependent. Diese geteilten Annahmen werden von Habermas „Lebenswelt“ genannt. Sie bestehen aus „Wissen, auf dessen Grundlage die einzelnen handeln, das heißt Deutungen von Handlungssituationen vornehmen und anschließend ihr Handeln aufbauen. Dieses Wissen ist zum großen Teil unbewusstes Wissen, das den Charakter von Selbstverständlichkeiten hat.“ (aus Offenbartl, S. 56). Dabei sind „Gefühle unsere ständigen Begleiter. […] Wir können gar nicht anders als emotional zu reagieren. Da wir unserer Körperlichkeit nicht entfliehen und deren Signale unsere emotionale Gestimmtheit unablässig beeinflusst, sind wir auch unseren Emotionen mehr oder weniger passiv ausgeliefert, insbesondere denen, die nicht ins Bewusstsein drängen. […] Und wenn Sigmund Freud formulierte: ‚Das Ich ist vor allem ein körperliches‘, könnte man auch sagen: ‚Das Ich ist vor allem ein emotionales.‘“ (Wirth, S. 24f).

Diese Ordnungsgrundsätze wurden und werden von Generation zu Generation, im Privaten und Öffentlichen, über gesellschaftliche Regeln und Strukturen seit Jahrtausenden tradiert. Sie sind implizite, unbewusste und deshalb umso wirkmächtigere Wissensstrukturen. Wie der Fisch, der die Anwesenheit des Wassers nicht hinterfragt, scheinen uns diese unbewussten Regeln und Denkstrukturen als unveränderbare Naturgesetze. Wir nehmen sie nicht explizit wahr – und die Profiteure des Patriarchats sorgen dafür, dass das so bleibt. Es ist ein äußerst wichtiger Teil ihre Herr-schaftssicherung.

Nach Offenbartl ist die grundlegende Dichotomie der Moderne, welche in der Aufklärung von Männern ausgehend, vom Mensch als Mann naturhaft begründet wurde: Rationalität vs. Nichtrationalität. Mit diesem sind weitere Gegensatzpaare verbunden. Auf dem rationalen Pol finden wir u. a. vernünftig, herrschend, autonom, öffentlich, Ordnung/Gesetz… Dem irrationalen Pol sind Konstrukte zugeordnet wie sinnlich, beherrscht, abhängig, privat, Chaos… „Die Spaltung in rational-vernünftig und nichtrational-sinnlich ist […] für die Herrschaftsbeziehung der Geschlechter von entscheidender Bedeutung. [Denn:] Alle Pole, die eher der Rationalität als dem Nichtrationalen zugeordnet sind, erfahren eine höhere Bewertung als ihre Gegenpole“ (Offenbartl, S. 162) und rational-vernünftig ist der Mann, der – hier schließt sich der Kreis – deshalb als Führungsfigur, als der Herrschende seine Legitimation erhält.

Leider ist a) diese Dichotomie nach neuesten wissenschaftlichen, psychologischen Erkenntnissen nicht zu halten, gibt es b) dem Patriarchat dienliche emotionsbezogene Doppelstandards, und c) ermöglicht die Herabwürdigung des Nichtrationalen, also der Emotionen – und damit auch der Fähigkeit zum Mit-Gefühl – unser zerstörerischen Verhaltens auf der Welt.

Gute Politik wird „von vielen Menschen vor allem als rationale Angelegenheit verstanden, bei der Gefühle idealerweise keine Rolle spielen. Schließlich geht es um grundlegende Entscheidungen für unser Zusammenleben, bei denen wir klug, überlegt und ohne Gefühlsduselei abwägen sollten“ (Urner, S. 14).  Klingt überzeugend und ist angesichts eines „gewaltigen Korpus an Forschungsliteratur aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und verwandten Disziplinen der letzten Jahrzehnte“ – falsch! Wir Menschen – und hier ist der Mann mitgemeint – sind niemals rational: „Gefühle sind nichts Privates, das wir von der professionellen und politischen Ebene trennen können. Alles, was unser Zusammenleben ausmacht und damit den politischen Raum bestimmt […] der immer und überall präsent ist, ist von Emotionen geprägt. Um noch eine Schippe draufzulegen: Die Ansicht, Emotionen hätten in der Politik nichts zu suchen, ist sogar – Achtung! – irrational. Denn Politik ist nichts anderes als ein Aushandlungsprozess über unterschiedliche Gefühle und damit verbundene Werte und Ideen…“ (Urner, S. 15). So entlarvt sich die Regel rational = gut = männlich als herrschaftserhaltendes Normativ des Patriarchats. Und es ist mehrfach gefährlich. Denn unbewusste, aber (wie gesagt immer vorhandene) Emotionen sind unreflektiert und unhinterfragt und bestimmen als solche dennoch und mehr unsere Entscheidungen und unser Verhalten.

Der Mensch Mann ist mithin keinesfalls weniger emotional. Allerdings nehmen wir seine Emotionalität nicht als unvernünftig wahr oder bewerten sie sogar positiv. Natürlich dürfen Männer* emotional sein, denken wir nur an Sieg oder Niederlage des geliebten Fußballvereins, an wütendes Licht-Gehupe auf der linken Fahrspur, an die Angst des besorgten Bürgers, an die Liebe zum Motorgeräusch des Verbrenners… Allerdings entscheidet der Mann*, welche Emotion von wem angemessen ist. Er hat die Macht der Deutungs- und Interpretationshoheit. Während männliche Wut im patriarchalen Spiel als kampfentscheidend zugelassen ist, führt weibliche Wut oder weiblicher Humor zur Disqualifikation. Emotion, die nicht Teil des patriarchalen Hierarchiekampfes ist, kostet Punkte. In der Klimadebatte führt das zu durchaus paradoxen Effekten: Während Aktivisti der Letzten Generation Irrationalität unterstellt und FFF Klimaangst angedichtet wird, wird der rationale Diskurs, der durch Wissenschaftler*innen ja durchaus eröffnet wurde, mit emotionalen Einwänden, die aber nicht als solche, sondern als vernünftig geframed werden, abgewehrt (Bevormundung, Angst vor Veränderung, meine Heizung, mein Auto…). „Männer, die nicht in der Lage sind, ihre Emotionen als solche anzuerkennen, behandeln ihre Gefühle wie schlichte Tatsachen und ihre subjektiven emotionalen Reaktionen wie die objektive Wahrheit.“ (Penny S.344). Wenn meine männlichen* Gefühle in meiner Wahrnehmung und Bewertung Fakten sind, dann ist alles rational und vernünftig – auch die Zerstörung allen Lebens: „Doch zugleich verkörpert das männliche Prinzip […] das Rationale, die Vernunft. Das Gegenteil der Zerstörung. Der männliche Hass erscheint dann im Gewand des Dienlichen, des Legitimen, des Staates, der Autorität. Der Hass entsagt sich gleichsam seiner Gehässigkeit und Hässlichkeit und wird zum Mittel der Vernunft.“ (Kurt, S. 37) Bezüglich unseres Umganges mit unseren Lebensgrundlagen bedeutet das: Der unerbittliche Kampf gegen die Natur, die permanente Bedrohung (also das Angst verbreiten) unserer Mitlebewesen, das gewaltvolle Ausbeuten allen Lebens wird als vernünftig geframed. Es verliert damit seinen emotionalen und moralischen Schrecken, der uns – bei Bewusstwerdung – dazu drängen würde, dieses Verhalten grundsätzlich in Frage zu stellen und zu lassen. Denn faktisch ist klar: Wir Menschen sind die Monster der Erde und halten uns gleichzeitig für die Spitze allen Lebens, anderen in jeder Form – mithin auch moralisch – überlegen.

Wird also auf der einen Seite, der emotionale Impact ausgeblendet, was Psychotherapeut*innen als „turning a blind eye“ bezeichnen, findet auf der anderen Seite eine patriarchal gestaltete, durchgängige Abwertung von Emotionen statt. Die Abwertung von Emotionen geht inhärent mit der Abwertung der Fähigkeit und Bereitschaft einher, die Empfindungen und Emotionen anderer mit-zu-fühlen. Diese Fähigkeit und der Wille dazu, sich in andere hineinzuversetzen, deren Leid oder deren Freude, deren Traurigkeit oder Angst mitzufühlen, werden vom Patriarchat als unvernünftig und nicht-rational abgewertet, sie gelten als naiv und gefährlich. Es sei denn, diese Fähigkeiten werden von Frauen* in den Dienst der Männer* gestellt. Das ist der Fürsorglichkeitsanspruch des Patriarchats an die Frauen, die dafür ausschließlich Gebende und Dienende sein sollen: „Eine Gebende ist demnach verpflichtet, Liebe, Sex, Zuwendung, Zuneigung und Bewunderung sowie andere Formen emotionaler, sozialer, reproduktiver und fürsorgender Arbeit gemäß gesellschaftlicher Normen zu geben, welche die relevanten Rollen und Beziehungen regeln und strukturieren.“ (Manne, S. 463) Dieser Anspruch an die Frauen* zu dienen im Übrigen wird letztlich ausgeweitet auf alles. So wird auch „die Natur zur Ressource, die eine dienende Funktion hat“ (Offenbartl, S. 155).

Psychisch gesehen sind diese fürsorglichen Tätigkeiten mit einer Reihe von (permanent trainierten) Fertigkeiten verbunden, welche zu dieser emotionalen und sozialen Arbeit innerpsychisch und zwischenmenschlich notwendig sind. Dazu zählen die Fähigkeit, die eigenen Emotionen regulieren zu können; Regulation der Emotionen des Gegenübers; die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen (Demut); die Perspektivübernahme; Kommunikation emotionaler Inhalte UND als grundlegende Voraussetzung: Mit-Gefühl, ein sich-Einfühlen in die Bedürfnisse und Grenzen des Gegenübers. Das ist die Anforderung, die von den Mächtigen an Frauen* gesetzt wird: „Himpathy“ – egal, ob der Mann* uns, unsere Kinder, unsere Erde ausbeutet, missbraucht, quält und tötet. Er ist das Opfer, dass einen Anspruch auf unser Mit-Gefühl, unserer Fürsorge und Stärkung hat. Diese Tatsache, das muss noch einmal betont werden, ist derart normalisiert, dass wir sie NICHT wahrnehmen und deshalb permanent ko-kontruieren und stabilisieren. Die Internalisierung dieser Regeln wird nicht nur über die gesellschaftlichen Erwartungen gesichert, sondern auch durch „Narrative über die besonderen Neigungen und Vorlieben von Frauen und würdigende Schilderungen relevanter Formen der Pflege- und Betreuungsarbeit als persönlich befriedigend, gesellschaftlich notwendig, moralisch wertvoll, ‚cool‘, ‚natürlich‘ oder gesund (solange Frauen sie verrichten)“ (Manne S.97). Die Charaktere, die Frauen* im patriarchalen Spiel wählen dürfen, sind mithin begrenzt: „liebende Ehefrau, hingebungsvolle Mutter ‚coole‘ Freundin, loyale Sekretärin oder gute Bedienung“ (Manne S.97) – wichtig ist, dass eine dem Mächtigen dienende Haltung eingenommen wird, was der Unterordnung in der patriarchal konstruierten Hierarchie entspricht. „Sanftheit“ – also auch Verletzlichkeit, Empathie,… „gilt als Kompetenz, und zwar als unabdingbare Kompetenz für ein weibliches Dasein – wird jedoch zugleich abgewertet.“ (Kurt, S. 35)

Wagen Frauen* diese Normen in Frage zu stellen, weigern sie sich, dieses Spiel weiter mitzuspielen – versagen sie also als Gebende, sehen sie sich diversen Formen von Misogynie und zwar von allen Geschlechtern ausgesetzt: Von Außenstehenden durch Missachtung, Beschämung oder gar psychische, körperliche und sexualisierte Gewalt; von Innen, aus den Personen selbst heraus, mit ähnlichen Mechanismen (Beschämung, Abwertung) und einer damit verbundenen massiven Verunsicherung. Frauen* sollen „sich kümmern, statt moralische Aufmerksamkeit und Rücksicht für sich“ (Manne, S. 435) UND für das Leben überhaupt einzufordern!

Denn eine weitere zentrale Regel des Patriarchats lautet: Probleme mit dem System sind Privatprobleme! Der schlagende Ehemann, die Altersarmut, ein fehlender Kita-Platz, mein Plastikverbrauch: Du bist ja deines Glückes Schmied*in! Du hättest ja andere persönliche Entscheidungen treffen können! Diese Privatisierung systemischer Probleme setzt die einzelnen Betroffenen ins Unrecht. So werden Solidarisierung und Aufbegehren verhindert. Nicht privat oder von einem Unternehmen selbst zu verantworten sind dagegen etwa Atommüll, Pleiten entfesselter Banken oder Investitionen in schädliche Energieproduktion. Solcherlei wird gesellschaftlich getragen, verantwortet und entschädigt. Deshalb ist die Feststellung so wichtig: Das Private ist politisch! Denn die Entscheidung, was privat zu sein habe, ist unter patriarchalen Prämissen getroffen. Es war ein Leichtes für BP, diese Taktik auch für die ökologische Krise anzuwenden und mit dem ökologischen Fußabdruck ein Modell zu verbreiten, das die Verantwortung den einzelnen Verbraucher*innen zuschiebt. Klimawandel als Privatproblem. So wird eine systemische Lösung des Problems verhindert und die Kosten für den Systemchange werden erhöht.

Im Grunde folgt das dem alten Prinzip der „Hausfrauisierung“ (Mies S. 127): Dem Mann den Rücken frei halten. Die Kriegsverletzten pflegen. Die Kapitalismusversehrten wieder aufpäppeln. In jedem Fall mit Fürsorge und Empathie nicht den eigentlichen gesellschaftlichen Schauplatz verändern, sondern nur dafür sorgen, dass das zerstörerische Spiel weiterhin gespielt werden kann. Die Figuren wieder kitten. Und dabei nicht davon sprechen, dass das Spiel ohne diesen kostenlosen fürsorglichen Reparierservice schon lange nicht mehr spielbar wäre, dass seine Kosten längst zu hoch wären. So ergeht es auch der Klimabewegung: Solange Jugendliche Müll sammeln und Rad fahren ist das fein. Wenn Frauen* unauffällig den Planeten aufräumen, dürfen sie das. Fordern sie aber gesamtgesellschaftliches Umdenken und stören die zerstörerischen Abläufe, hört der Spaß auf. An das System dürfen Forderungen nach Mit-Gefühl, Moral, Fürsorge und Solidarität nicht gestellt werden, sie gehören auf einen Nebenschauplatz, ins Private. Wenn sie den ihnen zugewiesenen Platz am Rande des Geschehens verlassen, werden kooperative menschliche Werte zur Bedrohung des seit Jahrtausenden bestehenden, die Herrschaft des Mannes* sichernden Patriarchats.

Culture of Care

Wenn wir alle das Patriarchat in unseren Köpfen und Körpern haben, warum spielen Frauen* bei dieser Transformation eine besondere Rolle?

Um es noch einmal deutlich zu benennen: Wir sprechen bewusst von Frauen*, weil wir nicht von einem biologischen, naturhaften Anderssein von Frauen ausgehen. Es geht uns mithin um das soziale Geschlecht (gender), welches durch Bewertung von Aussehen, Körpersprache und Handlungsweisen binär (männlich/weiblich) kulturell definiert wird. Diese Zuweisungen allerdings, die, so das biologische Geschlecht vermeintlich bekannt ist, bereits im Mutterleib anfangen, haben – wie oben ausführlich erläutert wurde – in ihren Auswirkungen auf Selbst- und Fremdverständnis kaum zu unterschätzende Effekte. Weiblich gelesene Personen werden entsprechend konsequent und über verschiedene Wege (Vorbild, Modell, Erziehung, Sprache, entsprechendes Spielzeug, Narrative…) zur Pflege einer „Culture of Care“ sozialisiert. Wie bereits oben beschrieben wurde, ist das ihre und zwar ausschließlich ihre Verantwortlichkeit. Wir erinnern uns: „Neben Zuneigung, Bewunderung [Anmerkung: des Mannes], Nachsicht und so weiter gehören zu solchen weiblich kodierten Gütern und Dienstleistungen schlichter Respekt, Liebe, Akzeptanz, Hege und Pflege, Geborgenheit, Sicherheit und Zuflucht. Dann gibt es noch Güte, Mitgefühl, moralische Zuwendung, Fürsorge, Anteilnahme und Trost.“ (Manne S.189 f). Frauen* sind dafür verantwortlich, dass alle psychisch und physisch gut versorgt sind und dass ein harmonisches Miteinander (in der in-group, wenn strategisch sinnvoll, auch zu Gruppen außerhalb) herrscht. Es ist ihre, nicht ausgesprochene und mehr oder weniger bewusst übernommene Aufgabe, im Privaten für eine Culture of Care zu sorgen.

Care-Arbeit findet also auch im Patriarchat statt. Sie ist aber in den Dienst des Patriachats gestellt, individualisiert und gleichzeitig durchgängig psychisch, sozial und materiell abgewertet. Die fürsorgliche, feministische Perspektive ist der konkurrierenden, patriarchalen strukturell und global untergeordnet. Gut zu sehen war dies in der Corona-Krise, wo plötzlich die schlecht bezahlten Jobs als die systemrelevanten sichtbar wurden. Schmerzhaft zu sehen ist es, wenn wir auf den Zustand der Welt schauen, wie wir ihn oben ausschnitthaft beschrieben haben. Unser pathologischer Glaube, die Überlegenen, die Krone der Schöpfung zu sein, hat einen Flächenbrand genährt, der sich gegen alles Leben und letztlich auch gegen uns selbst richtet.

In den vergangenen Jahren kommen Wissenschaftler*innen und Vordenker*innen aus diversen Richtungen, z. B.:

  • Biologie (Jens Soentgen, Antje Boetius)
  • Ökofeminist*innen (Vandana Shiva, Maria Mies)
  • Soziologie (Eileen Christ; Franziska Schutzbach)
  • Philosophie (Corine Pelluchon; Otfried Höffe; Eva von Redecker)
  • Psychologie (Sally Weintrobe, Wilhelm Rotthaus)
  • Physik/Naturwissenschaften (Vandana Shiva, Harald Lesch, Sebastian Seiffert)
  • Transformationsforschung (Maja Göpel,)
  • Theologie (Franz Alt)
  • Politikwissenschaft (Natascha Strobl)

zu (überraschenden, weil im Grunde so naheliegenden, wäre da nicht das wirkmächtige unsichtbar gemachte Patriarchat) übereinstimmenden Überlegungen, was notwendig ist, um die Vernichtung allen Lebens aufzuhalten. Franz Alt beschreibt diese wie folgt: „Das Wir ist wichtiger als das Ich. Dieses Wir ist freilich mehr als wir Menschen. Wir müssen endlich Abschied nehmen vom Anthropozentrismus. Das Prinzip der Zukunft heißt: Das Leben steht im Mittelpunkt – Menschen, Tiere und Pflanzen. Es geht um die Interdependenz allen Lebens. Denn alles ist mit allem verbunden und voneinander abhängig. Erst das Mitgefühl mit allen Geschöpfen macht uns wirklich zu Menschen […] Die gesamte Schöpfung basiert auf dem Prinzip von Abhängigkeit und Wechselwirkung.“ (Alt S 181f). „Das bedeutet die Ablehnung der Vorstellung, dass die Freiheit und das Glück der Menschen von einem fortwährenden Emanzipationsprozess von der Natur abhängen und auf der Unabhängigkeit von natürlichen Prozessen und ihrer Beherrschung durch Rationalität und Verstand beruhen.“ (Mies & Shiva, S. 16). Wir sprechen demnach von Menschen, die sich ihrer Verletzbarkeit, Versehrbarkeit (vgl. Emcke) und ihrer Abhängigkeit als Teil eines Lebens-Netzes bewusst sind und daraus eine Welt der Verbundenheit, des Mitgefühls, der Demut, Kooperation und Sorge gestalten. Das aber ist eine feministische Welt – eine Welt der Gleichwertigkeit, der „radikalen Verbundenheit“ (vgl. Urner) und Würde ALLER.

Feministische Arbeit bedeutet, auf eine solche Welt hin zu kämpfen und zu leben. Es gibt einen reichen Schatz feministischer Ansätze dazu. Bislang werden diese Ideen im patriarchalen System erstickt. Ein gutes Beispiel für Deutschland ist etwa der UFV, der Unabhängige Frauenverband, der sich 1989/90 in den Vereinigungsprozess ungeheuer engagiert in die Verhandlungen einbrachte. Der Verband forderte dabei schon damals nicht nur eine Gleichberechtigung von Geschlechtern, sondern stellte auch fest: „Die folgenreiche Logik einer auf der Beherrschung der Natur und der Unterdrückung großer Bevölkerungsgruppen (darunter besonders der Frauen) beruhenden Entwicklung muss unterbrochen werden, wenn die Menschheit sich nicht am Ende selbst vernichten soll“ (Merkel). Nach einer Beteiligung am „Runden Tisch“ und der Durchsetzung einiger konkreter Forderungen löste sich der Verband schon 1998 wieder auf, nachdem er daran gescheitert war, feministische Arbeit auf parlamentarischer Ebene zu implementieren.

Nun bekommen solche feministischen Ansätze Unterstützung durch die oben genannten Wissenschaftler*innen anderer Disziplinen.

Social Gabe: https://www.flickr.com/photos/nightclublinx/11571393643

Es ist also überlebensnotwendig, Care zum Kern des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu machen und es ist denk- also auch umsetzbar – auch wenn sich der patriarchale, neoliberale Kapitalismus (un-) redlich bemüht, uns vorm Gegenteil zu überzeugen: „Ein Argument besagt, dass die Menschen grundsätzlich achtlos und egoistisch seien und es ihnen daher nichts ausmache, in einer achtlosen Wirtschaft zu leben. Was dieses Argument widerlegt, ist die Tatsache, dass die Neoliberalen viel Geld für eine Kultur ausgegeben haben (einschl. Werbung, Massenmedien und Förderung der allgemeinen Gruppenkultur), um die Kultur der größeren achtsamen Sorge, die sie geerbt hatten, zu deregulieren. Sie haben Geld ausgegeben weil sie es mussten, denn ihr Problem ist, dass die Menschen sich sorgen.“ (Weintrobe, S. 115)

Was also gilt es zu tun? Um tatsächlich Neues entstehen zu lassen, gilt es, die bereits vorhandenen Fäden emanzipatorischer Bewegungen wieder aufzunehmen und kritisch auf uns sowie die von uns ko-konstruierten gesellschaftlichen Strukturen zu schauen. Es gilt, alle Prämissen des Patriarchats zu hinterfragen. Etwa:

  • Liegt Konkurrenzkampf in unserer Natur?
  • Muss Neid als menschlicher Antrieb genutzt werden?
  • Ist Hierarchie unabdingbar und Ungleichheit unvermeidbar?
  • Dürfen Wille und Fähigkeit zu Gewalt für gesellschaftliche Partizipation entscheidend sein?
  • Ist Mitgefühl naiv, Abhängigkeit eine unaushaltbare narzisstische Kränkung?
  • Entspricht uns diese auf Ego angelegte Gesellschaft?
  • Teilen wir eigentlich diese Ungleichheitsideologie, die von Neoliberalen „Leistung“ genannt wird?
  • Wollen wir die Kosten dieses wirtschaftlichen Handelns bezahlen?
  • Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die unserem Bedürfnis nach guten Beziehungen gerecht wird?
  • Was ist für uns ein Gutes Leben?
  • Wie kann Kooperation strukturell gestützt und genutzt werden?

Und weiter: Auf wessen Antworten zu den oben genannten Fragen hören wir? Wer hat damit die Macht und sichert sich diese wie? Welche Macht haben WIR?

Wollen wir diese grundlegende Entscheidung zu einem patriarchalen Spielprinzip des Konkurrenzkampfes weiterhin akzeptieren, bei dem es stets Verlierer*innen geben muss, damit es Gewinner geben kann? Oder wollen wir endlich kooperative Spielprinzipien erproben?

Es ist unstrittig: Wir brauchen radikale Veränderungen. Einen Systemchange im besten Sinn. Ohne einen grundlegenden Paradigmenwechsel kann die Weltgemeinschaft „weder die Care-Krise noch die Klimakrise lösen […] Das heutige Wirtschaftssystem beruht gleichermaßen auf der Externalisierung der Kosten für Care-Arbeit wie für sämtliche Naturressourcen, um Profitraten ins Unendliche zu steigern. Das muss sich ändern.“ (Meier-Gräwe S.28).

Entsprechend unseres radikalen Bedürfnisses nach Eingebundensein und Kooperation wäre diese Welt ein einzigartiges Netz lebendiger Beziehungen. Statt für die patriarchalen Werte Ausbeutung, Hierarchie und Konkurrenz würden wir uns für unsere kooperative Seite als Handlungsparadigma entscheiden. Wir könnten unsere Gemeinschaften auf „Wohlergehen“ ausrichten, so wie der Club of Rome das vorschlägt, und damit folgende Prinzipien als grundlegend ansehen: Würde, Natur, Verbundenheit, Fairness und Teilhabe. Damit wird das kapitalistische BIP als Messgröße verworfen. Sicherheit würde durch eine basale Versorgung aller – im Sinne z. B. der Donut-Ökonomie – ohne Zwang zu Gegenleistung sichergestellt; Wachstum nicht mehr als Wachstum von Besitz, sondern als qualitatives Wachsen von Beziehungen definiert. Unser Eingebundensein umfasste die Mitwelt: Pflanzen, Tiere, Elemente, die dann nicht als auszubeutende Ressource, sondern wie wir als Teil der Kreisläufe gesehen werden. Mit einem verantwortlichen, fürsorglichen Blick auf die Welt verändern sich die Paradigmen für gerechtes und nachhaltiges Handeln. Care wird zum Kern des Zusammenlebens, ist nicht mehr Randaspekt, der die Arbeitsfähigkeit in den Ausbeutungsprozessen herstellt. Wir haben so viel zu gewinnen.

Aber wir haben auch viel zu verlieren, denn die Zeit drängt. Mag diese Transformation zu einer „Culture of Care“ (vgl. Weintrobe) essentiell sein für die Bewältigung – also zumindest das Ausbremsen – der Polykrise, so gilt das ebenfalls für den möglichen und leider wahrscheinlichen Kollaps, der unser Zusammenleben herausfordern wird. Weil das Patriarchat ein durchdringender, unbewusster Bestandteil unserer impliziten Wissensstrukturen ist, greifen wir auf die damit verbundenen Bewertungen und Handlungsmuster gerade in Notlagen zurück. Wir haben nicht gelernt, Verbundenheit und Solidarität zu leben – gleichwohl es offensichtlich eine viel größere Tendenz in uns Menschen gibt, als das Patriarchat annimmt, prosozial zu handeln (vgl. Bregman). Insofern könnten wir sagen: Wir haben nicht gelernt, schlechte Führer*innen abzuwählen (vgl. Weintrobe S.258), sondern wir regredieren ganz im Sinne des Patriarchats und hoffen auf einen starken Vater, der uns beisteht und der leider, so zeigt es die bisherige Geschichte der Menschheit, eher autoritär, faschistisch und eben patriarchal ist. Das Erstarken der entsprechenden gesellschaftlichen Kräfte ist weltweit zu sehen. So gilt denn heute, morgen und im möglichen Kollaps: Wir müssen uns weiter emanzipieren – hin zu einer die Verbundenheit bejaenden Welt – eine große Herde aus vielen unterschiedlichen Lebewesen – eine Weltgemeinschaft – ein WIR.

Wenn es also unter Personen, die sich mit diesen Themen beschäftigen eine so große Übereinstimmung dahingehend gibt, dass wir eine Kehrtwende hin zu einer global und hinsichtlich allen Lebens gerechten, sozialen Welt benötigen, dann haben wir Frauen* qua unserer Jahrtausende trainierten Fertigkeiten nicht ein Angebot zu machen, wir haben DAS Angebot zu machen. Und wir sollten es nicht als Angebot, sondern als GEBOT der Stunde begreifen, denn es geht um nichts weniger als unser aller Überleben!

Spielverderber*innen sein: Gewaltstrukturen offenlegen, Wertewandel anstoßen!

„Wenn das Endergebnis des gegenwärtigen Weltsystems eine allgemeine Bedrohung des Lebens auf dem Planeten Erde ist, dann ist es von zentraler Bedeutung, den Überlebensdrang sowie die Entschlossenheit zu leben, die in allen Lebewesen stecken, wiederzuerwecken und zu nähren.“ (Mies & Shiva, S. 13).

Es ist Zeit zum Meutern! Die Voraussetzungen dafür sind: die Jahrtausende tradierte Selbstverständlichkeit, mit der wir unser Leben durch Ausbeutung organisieren, zu hinterfragen und die damit verbundene Gewalt gegen all jene, die in der Hierarchie unterhalb der Krone der Schöpfung stehen, zu erkennen und zu benennen. Das Ziel ist ein radikaler Paradigmenwechsel von Ausbeutung, Gewalt, Hierarchie und Konkurrenz hin zu Gerechtigkeit, Würde, Kooperation und Care.

Die Frauen* der Welt können dafür bei ihren je eigenen Ausbeutungserfahrungen ansetzen, diese reflektieren und benennen. Das eigene Leben durch die queerfeministische Brille zu lesen, legt Gewaltsysteme offen, von denen wir betroffen sind. Es gilt, dabei nicht in die individualistische Falle zu tappen, indem wir uns darauf beschränken, für uns selbst oder kleine Splittergruppen einen Aufstieg im Hierarchiesystem zu bewirken. Vielmehr müssen wir das System selbst verändern. „Feminismus ist nicht eine historische Bewegung, die mehr für Frauen herauszuschlagen versucht. Feminismus versucht, andere Werte und Lebensformen als die vom Patriarchat entwickelten zur Geltung zu bringen. Wir wollen nicht die Hälfte des Kuchens, sondern wir brauchen es, ganz andere Kuchen zu backen als die neoliberalen, die uns als besonders schmackhaft angedreht werden. Sie sind alle auf das möglichst unabhängige Individuum bezogen. Eine Frau sein – und immer wieder werden – bedeutet aber gerade nicht, unabhängig und ungebunden zu sein.“ (Dorothee Sölle). Die Frauen* dieser Welt können dazu Bezug nehmen auf Frauen* aus anderen Zeiten und anderen Kulturen und dabei die Unterschiede und unterschiedlichen Sichtweisen zu einer gemeinsamen Kraft entwickeln.

Und wir müssen auch unser Täter*innen-Sein, unser Hineingeboren-sein in unsere Okzidentalität reflektieren: „Wir werden alle in eine Welt hineingeboren, die durch die Kolonialgeschichte, durch die Unterwerfung der einen durch die anderen geformt ist. Nichts zwingt uns, sie als solche hinzunehmen, an Positionen festzuhalten, die uns durch die Abwege des Männlichen auferlegt wurden. Doch genau das tun wir, wenn wir die Notwendigkeit verkennen, dass jede Frau die Welt ausgehend von ihrem Ort und ihren eigenen Begriffen ausdrückt… Es kommt darauf an, die Sprache der anderen zu hören und zu erlernen.“ (Miano S.26). Dabei geht es keinesfalls um eine deckungsgleiche Übereinstimmung, sondern um „Solidarität als Klammer“ (Strobl S.59) von vielfältigen Lebensrealitäten, vor deren Hintergrund wir grundsätzliche Fragen stellen und auf Antworten drängen. „Es darf kein Abwägen, kein Aussortieren und kein Absondern geben. Die Zukunft ist für alle – oder sie ist keine solidarische Zukunft. Eine autoritäre Zukunft ist keine lebenswerte Zukunft.“ (Strobl S.44).

In Widerstand zu gehen zu den bisherigen, viel zu wenig hinterfragten Paradigmen, wird Gegenwehr und Ablehnung hervorrufen (übrigens auch in uns selbst, wo dies für uns selbst Privilegien-Verlust bedeutet). Wir werden zu „Spielverderber*innen“ (vgl. Ahmed) eines gut etablierten, gewaltvollen Spiels. Die verdeckten Spielregeln des Patriarchats offenzulegen, es zu analysieren, zu benennen, welche Werte dem zugrunde liegen, ist eine notwendige feministische Arbeit, die massiv unterschätzt wird: Etwas „Zur-Sprache-Bringen [ist] ein Zur-Existenz-Bringen“ (Ahmed S.56), das dadurch zu einem Umgang auffordert. Wir können nicht mehr daran vorbei – jedenfalls nicht, ohne wieder ins Dunkel der kollektiven Verdrängung zu fallen. Deshalb werden wir uns unbeliebt machen, so wie Generationen von feministischen Frauen* vor uns. So wie es an der Kriminalisierung der Klimabewegung ebenfalls sichtbar ist. Wir werden einen Eindruck davon bekommen, wie stabil das Patriarchat in unser aller Köpfen etabliert ist und welche misogynen Schachzüge angewendet werden, um uns und unser Anliegen wieder unsichtbar zu machen.

Hier gilt es besonders wachsam zu sein. Das über Jahrtausende gut trainierte Patriarchat in unseren Köpfen führt auch dazu, dass Frauen* sich sehr viel schwerer damit tun, aktiv aggressiv (aggredi: sich etwas nehmen, Grenzen setzen) zu sein. Verantwortlich für eine gelingende Beziehung (häufig als Harmonie missverstanden) zu sein, bedeutet, ein braves, absolut verständnisvolles, sich im Zweifel unterordnendes Mädchen sein zu müssen – bzw. sich dafür (meist eher unbewusst) zu entscheiden, dies zu sein. Das Ergebnis dieser Zurücknahme von Frauen*: „In einer Zeit globaler Krisen liegt unsere Zukunft in den verschwitzten Händen von Männern, die sich hartnäckig weigern, ihre Gefühle wie Erwachsene zu kontrollieren, und auf dieser Weigerung eine Massenbewegung errichten.“ (Penny S.344). Es gilt also sich wieder und wieder um eine Haltung der gesunden Aggression zu bemühen, diese zu trainieren und sich gegenseitig darin zu stützen.

„Die politisch Verantwortlichen haben Angst. Aber sie haben nicht wie wir Angst davor, dass das Leben auf dieser Erde und die Zukunft zerstört werden. Sie haben Angst vor unserer Angst, vor unserer Wut. Darum versuchen sie, uns zu beruhigen. Nur keine Panik! Aber wir lassen uns nicht mehr beruhigen. Unsere Wut, unsere Angst haben uns die Augen geöffnet. Sie geben uns die wichtigste Energie, die wir jetzt brauchen…“ (Mies & Shiva, S.108). Das bedeutet, die Zustimmung zu verweigern – nicht mehr zu lächeln, wegzuschauen, zu entschuldigen und die Folgen der Gewalt zu tragen und zu heilen. Das heißt auch: „Wir Übrigen müssen uns nun der Illusion entledigen, es wäre verboten und moralisch gewagt, etwas zu unternehmen, das dem Unterdrücker in irgendeiner Weise schaden könnte. Wir haben verinnerlicht, dass es falsch ist, zu kämpfen. Diese zum Teil erlernte Reaktion auf ein anhaltendes politisches Trauma sichert dem Täter seine Machtposition.“ (Penny S.349)

Die Umwelt- und Klimabewegung kann unseres Erachtens effektiver sein, wenn sie den Zusammenhang zwischen patriarchaler Culture of Uncare und mitweltschädlichem Wirtschaften stets aufzeigt und sich der Machtstrukturen, welche sie angreift, bewusst ist. Gesellschaftliche Visionen einer Culture of Care lassen sich sozial sehr anschaulich beschreiben und sie können darauf hoffen, dass sich viele Menschen damit solidarisieren. In der bewussten Arbeit am Paradigmenwechsel, am Wertewandel, könnte die Umwelt- und Klimabewegung Verbündete haben, die bislang noch wenig involviert sind: Sozialverbände, progressive Kirchen, Gewerkschaften, Gesundheitsversorgung, Pflege, Bildungssystem. Antikapitalismus, Feminismus, Antifaschismus und Klimabewegung kämpfen für die gleichen Werte.

Wenn uns bewusst ist, dass der Kampf gegen Massenausrottung und Klimakatastrophe zugleich der Kampf gegen die patriarchalen Werte ist, können wir auch in der Sprache, in den Methoden und Aktionsformen kreativer und effektiver werden. Zum einen gilt es, nicht auf patriarchale und neoliberale Framings hereinzufallen, sondern eigene zu pflegen und zu entdecken, die zu einer Care-Gesellschaft passen. Zum anderen dürfen, ja müssen wir Aktionsformen entwickeln, die gezielt Emotionen wie Mitgefühl oder auch gerechtfertigte Wut erzeugen und Methoden finden, welche an die Werte Solidarität, Gerechtigkeit, Fürsorge appellieren, die in jedem Menschen angelegt sind.

Es ist Zeit, sich der verhängnisvollen Entwicklung zu widersetzen – es ist Zeit, diesen Widerstand zu lernen – darin solidarisch zu sein – und Visionen einer verbundenen Welt zu entwickeln.

Eine feministische Rebellion

Vorerst würden wir folgende Ziele und Methoden für FeministRebellion beschreiben:

  • Gewaltvolle Strukturen des Patriarchats und der Mitweltvernichtung entlarven
  • Täter*innen und Täter*innenstrukturen klar benennen
  • Patriarchale Wertsetzungen und Regeln, gut verinnerlichte Lebenslügen verabschieden
  • Kollektive Normalitätssimulation verweigern, uns und anderen Realität zumuten
  • Eigene Werte klar und einladend kommunizieren
  • Eigene Vorstellungen von gutem Leben entwickeln und kommunizieren
  • Patriarchale Diskurskontrolle unterlaufen, Emotion und Moral in Diskursen pflegen
  • Aufklärungsformate (Workshops, Vorträge, Manifeste, Kooperationen…)
  • Aktionsformate (auch ziviler Ungehorsam, Kunst einbeziehen)
  • Vor und im Kollaps: solidarisch preppen, vernetzen, Verteidigung der Schwächsten
  • Laut sein, Sichtbarkeit herstellen: Wir bitten nicht, wir zeigen Notwendigkeit auf
  • Mitstreiter:innen gewinnen (Solidarität als Klammer, keine Zerteilung in Partikularinteressen, Vielfalt erwünscht, Intersektionalität beachten)
  • Auf den Schultern der Frauen* stehen, die bereits emanzipatorische Kämpfe gefochten haben, deren Erfahrungen wertschätzen und nutzen
  • Lernen im Tun, Praxis vor Theorie: in widerständigen Aktionen und deren Reflexion Theorien und Handlungsansätze weiterentwickeln

So wichtig es uns war, die Zusammenhänge differenziert darzustellen, so sehr sollen unsere Überlegungen Grundlage von konkreten Handlungen sein. Wir suchen Mitstreiter*innen, die eine feministische Rebellion für unabdingbar halten und Lust haben, darüber zu diskutieren, weiter zu denken und konkrete, gemeinsame nächste Schritte zu planen.

Menschen oder Gruppen, die Lust auf FeministRebellion haben, können für eine erste Vernetzung Kontakt aufnehmen über:

feminist-rebellion_2024@riseup.net.

September 2024

Anne & Nadine